Jackie

Jackie gehörte zu jenem Typus junger Frauen, wie sie zu Hunderten die PR- und Werbeagenturen dieser Welt durch(sch)liefen – bis sie sich nach Jahren entweder einen lukrativen Repräsentationsjob in einem Unternehmen gesichert haben, den sie mit ihrem appetitlichen bis attraktiven Aussehen, ihren perfekten Manieren, ihrem mehrsprachig sicheren, modischen Geplapper und der inzwischen erworbenen Routine in kleineren wie größeren Machtkämpfen ausfüllen – oder ihre öffentliche Wirksamkeit ganz in den privaten Dienst eines unerreichbar hohen Repräsentanten stellen, so mächtig oder vermögend, dass nur noch dezente PR-Maßnahmen mit eigenen Kindern, Gartenparties, luxuriösen Reisen und wohltätigen Aufgaben gefragt sind. In beiden Fällen spiegelt sich ein Aufstieg in der Hierarchie in körperlichen Attributen: Immer ausladendere Dekolletés, immer breitere Hüften stecken in immer teureren Klamotten, immer dickere Schichten Make-up über dem mit Selbstbräuner vedelten Teint müssen die Spuren privater und geschäftlicher Demütigungen oder Misserfolge überdecken, während Erfolgstrophäen deutlich sichtbar in Gold und Edelsteinen zur Schau gestellt werden. Offensichtlich, warum Unternehmen wie Private sich regelmäßig vor die undankbare Aufgabe gestellt sehen, das Personalkarussell sozial verträglich weiter zu drehen.
Deshalb veranstalten Berufsverbände und Branchenorganisationen Kongresse, die von renommierten Unternehmen gesponsert werden. Auf einer derartigen Veranstaltung hatte er Jackie kennen gelernt. Wie immer war er auf dem abendlichen Welcome Event halbblind und unbedarft herum gestolpert, und nur eine nicht einmal beabsichtigte Ungeschicklichkeit hatte ihm Jackies Bekanntschaft eingebracht, die sein Interesse mit der unwiderstehlichen Verbindung eines warmen Blickes aus ihren rehbraunen Augen mit einer ungewohnt zynischen Bemerkung gewonnen hatte. Sie stand auf schlanken, langen Beinen, die ihr selbst in ihrem schwarzen Hosenanzug einer Kaufhausmarke einen modelhaften Auftritt erlaubten. Ihre braunen Haare fielen locker auf die Schultern, schlicht und ohne Spuren teurer Frisurkünstler. Dezent geschminkt, wie sie war, betonten ihre dunklen Brauen ganz natürlich ihre Augen. Mit einer aufmüpfigen, schlanken Nase und elegant geschwungenen Lippen, die immer wieder den Blick auf zwei helle Zahnreihen freigaben, wirkte sie wie eine Französin, genau genommmen wie das Idealbild aller Französinnen, eine Pariserin. Während sie sich lebhaft unterhielten – sie teilte erfreulicherweise seine Vorliebe für italienische Weine – entdeckte er jene kleinen Besonderheiten an ihr, die in seinen Augen Schönheit mit Einzigartigkeit adelten: Mit Unterschieden zwischen beiden Gesichtshälften, einem schief geschliffenen Schneidezahn, einem unbezähmbaren Haarwirbel oder einem Muttermal enthob sie sich dem Typus und gewann seine Sympathie. Ihre Gesprächsthemen hatten längst den beruflichen Rahmen verlassen und sich über alle Spielarten von Kultur erstreckt, vor allem jedoch auf die französischen und deutschen Literaturen, als er den Abend mit dem Gefühl beendete, ihn auf bestmögliche Weise verbracht zu haben.
Obwohl ihre angekündigte Bewerbung für die von ihm offerierte Stelle niemals eintraf, blieben sie in Kontakt. Ihre Emails ebenso wie seine Antworten bezogen sich neben wenigen persönlichen Zeilen auf Literatur – doch warum und vor allem wie systematisch sie aufgebaut waren, das wurde ihm erst lange Zeit später klar …

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