Annemarie

Annemarie dachte er sich als Meerjungfrau, die versehentlich ohne Fischleib geboren wurde. Statt dessen stehen ihre langen Beine wohl proportioniert auf der bayerischen Mutter Erde. Um ihre Pupillen aber spritzt übermütig ein Ring aus weisser Gischt; dann folgen die Gelb-, Grün- und Blautöne der an mediterrane Küsten brandenden See. Unter der hohen Stirne spielen elastische Wellen brünetter Seetang-Locken um ihr Gesicht. Blasse Lippen formen sich zu einem sinnlichen Mund; hohe Wangenknochen laufen aus in einem schmalen Kinn. Ihre kleinen Ohren schieben sich von unten nach vorne aus den Locken. Manchmal stellt sie den Kopf schräg und lächelt koboldhaft…
Annemarie war in den vergangenen Monaten Herrin seiner Gefühle geworden. Erste Anzeichen dieser Entwicklung bemerkte er nach ihrem ersten gemeinsamen Abendessen, in einem französischen Restaurant. Bis Mitternacht unterhielten sie sich angeregt bei zahlreichen Speisen mit Weinbegleitung und fanden immer wieder neue Themen, die sie mit der geteilten Freude an einer etwas überspitzten Sichtweise abhandelten. Es wurde viel gelacht. Wie würden sie den schönen Abend fortsetzen? Er war weder auf diese Frage vorbereitet, noch bekam er Gelegenheit, sie zu stellen, so gekonnt leitete Annemarie ihren Abschied ein. Morgen müsse sie früh zu einem Seminar aufbrechen. Ja, sie lade sich leider immer viel zu viel auf, werde es schon noch lernen, sich weniger zu verplanen. Dieses normale Ende eines ersten Abends berührte ihn weit mehr als sonst. Ihre schonende Höflichkeit betäubte ihn in gleichem Maß, wie ihn ihre messerscharf vernünftige Vorwegnahme des Ausganges verletzte. Er taumelte aus dem Lokal, orientierungslos, handlungsunfähig. Annemarie hatte schon ihr Auto erreicht, kehrte lachend noch einmal um, zum Abschied, bei dem seine linke Backe hauchzart ihre Wange streifte. Diese beinahe Berührung elektrisierte ihn von Kopf bis Fuß, löste einen Gefühlsstrom aus, der ihn begleitete: Beglückt und nicht wenig alkoholisiert machte er sich zu Fuß auf den Heimweg, nebenbei ein Fall ins Bodenlose …

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