Report-Tage

Nun sitze ich im Zug, der natürlich nicht planmäßig abgefahren ist – Stromausfall, Bremsprobe, alles schon im Bahnhof. Was soll ich sagen? Und Du gehörst jetzt gewissermaßen zu meinem Boulevard-Frühstück, mit Zweitkaffee für einen Euro, nur für kurze Zeit!
Es geht nach Bamberg, zum 335 Jahre alten Brauerei-Ausstatter Kaspar Schulz, der heute die meisten, trendigen Mikrobrauereien liefert – und zwar mit dem gewünschten, authentischen Ambiente: Wähle zwischen Kupfer für die heimelig-mittelalterliche Meistersinger-Atmosphäre oder coolem Edelstahl für die rationale Edelbrauerei – alles mit wenig Schweissnähten für hohe Hygiene. Der konstruiert mit der Software Solid Edge – was mir nicht nur die Hoffnung auf ewigen Ruhm, sondern auch blanke Taler einbringt!
Eigentlich mal Jean Paul – hier ein Interview mit seinem jüngsten Biographen – gelesen? Siebenkäs? Quintus Fixlein? Die Flegeljahre mit Vult und Walt, dem gegensätzlichen Zwillingspaar in meiner Brust? Albano und Roquairol im Titan? Da kann Goethen noch so lange salbadern! Jetzt wo ich gerade nach Bamberg fahre, dürfte es nicht mehr weit sein bis Wunsiedel und Bayreuth!
Nach Betriebsbesichtigung und zweistündigem Interview gehe ich von der Theorie zur Praxis über. Dazu empfiehlt der freundliche Taxifahrer die Brauerei zum Spezial, 470 Jahre alt, nebst einer Einführung in die Bamberger Spezialität Rauchbier. „Das dazu benötigte Rauchmalz stellen wir in unserer eigenen Mälzerei nach Jahrhunderte altem Verfahren selbst her. Dabei trocknet das Malz über offenem Buchenholzfeuer und erhält dadurch das typische Aroma“, verspricht Inhaber Christian März per Speisekarte.
Neun Brauerein gibt es in der Studentenstadt, neben Spezial würde sich auch das kräftigere Schlenkerla für einen nachhaltigen Rausch empfehlen. Aber den streben wir (noch) nicht an. Statt dessen probiere ich für 5.50 Euro die Sülze mit Bratkartoffeln. Ich liebe Deutschlands Regionen! Wiederhole mich. Bin ich heute mehr romantischer Verklärer, oder aufklärerischer Zerstörer? Vult oder Walt? Die Sülze war einfach hervorragend. Frische, knackige Mohrrüben-Brunoise – hier noch Karotten genannt – mit verschiedenen kleinen, aber feinen Kochfleisch-Stückchen verpresst, so dass weder Fett noch viel Gelatine dazwischen passt. Die Essig-Öl-Sauce schmeckt in süddeutscher Tradition mehr süß als sauer. Ich werde die Zutaten nicht googeln, keine Kalorientabelle aufstellen. Die frischen Lauchzwiebeln, die perfekt geschnittene Zwiebel-Julienne halten mich davon ab. Das ist gutbürgerliche Küche, für die Frankreich einmal berühmt war, liebevoll und kundig zubereitet. Als Reminiszenzen der napoleonischen Besatzungszeit erscheinen auch die meist trockenen Bamberger Hörnchen, schlanke Entsprechungen der französischen Croissants, im Idealfall aus Blätterteig, der Butterflecken hinterlässt. Soll ich mit nach Hause bringen. Die Bratkartoffeln haben trotz zuviel billigem Fett und mitgebratenem, getrockneten Majoran exzellent gemundet. Schliesslich entfaltet auch das Rauchbier seine Wirkung, nicht nur seinen Geschmack, der mich an Rußgeruch erinnert: intensiv wie an feuchten Tagen nach einem heissen Kaminabend. Und Walt hat wieder zugeschlagen: Gleich auf der Startseite der Brauerei zum Spezial wartet die Rückrufaktion wegen zu hoher Konzentration des als gesundheitsschädigend geltenden Stoffes Nitrosamin in zwei Chargen. Na, wer ’s nicht verträgt!
Die günstigen Preise wurden wohl im Bamberger Bierkrieg festgeschrieben.
Schnell zum Bahnhof und drei, dann vier Hörnchen gekauft. Manchmal geht das gemeinsame Erlebnis doch über die einsame Abneigung!

Schreibe einen Kommentar